Wie sind wir bloß hierher gekommen?

Heute ist schon wieder ein Jahrestag. Am 3. 11. 2016 wurden wir wieder in ein Krankenhaus aufgenommen. Diesmal ins „richtige“ Krankenhaus, weil endlich ein Bett frei geworden war. Dass ausgerechnet bei den Kindern so gespart wird, sehe ich äußerst kritisch. Du bestimmt auch!

Naja, jedenfalls wurde Julia bei der Aufnahme im Behandlungsraum untersucht, während mein Mann mit unserem Sohn im Spielzimmer war. Ich stand wieder einmal an der Front, er durfte mit dem Kind spielen. Ich war ihm nicht böse, sondern habe ihn beneidet. Was hätte ich dafür gegeben an seiner Stelle zu sein. Mit dem Oberarzt habe ich den bisherigen Krankheitsverlauf besprochen. Von dem ganzen Gespräch sind mir nur 6 Worte des Arztes in Erinnerung geblieben. „Das haben Sie sehr gut gemacht.“ An diesem Satz habe ich mich festgehalten. Und ich war auch sehr gerührt von der Menschlichkeit dieser Aussage. Überhaupt war dieser Krankenhaus Aufenthalt von Menschlichkeit und Kompetenz geprägt. Ich glaube es musste so sein, wenn ich damals mit derselben maßlosen Inkompetenz und Ignoranz konfrontiert worden wäre (allgemein betrachtet), wie ich es heute gewohnt bin, ich hätte den Verstand verloren. Ganz zweifellos. Ich brauchte diesen „sanften“ Einstieg, um bei Verstand zu bleiben.

Was ich zum Glück nicht wusste war, dass das wirklich ein „sanfter“ Einstieg war. Diesen Eindruck hatte ich nicht. Ich war in Schock, innerlich. Nach außen hin natürlich gefasst und entspannt. Das Kind wurde ans Langzeit EEG angeschlossen. Das bedeutet es wurden 7 Tage lang und rund um die Uhr die Gehirn Aktivitäten meines Kindes überwacht. Im Zimmer eine Kamera, um etwaige Anfälle zu sehen. Kein Radio, kein Fernsehen, komplett abgeschnitten von der Außenwelt. Im Zimmer ein weiteres Kind mit Behinderung. Überall Rollstühle, Hilfsmittel und Grabesstimmung. Und epileptische Anfälle. Das einzige Gesprächsthema, das Kind mit Epilepsie. Und ständig von einer Frage gequält:“ Wie sind wir bloß hierher gekommen?“ Es war für mich unvorstellbar, dass mein Kind so wie die anderen Kinder auf dieser Station war. Behindert.

Das war mein sanfter Einstieg.

Ehrlich gesagt ich habe auch lange nicht kapiert, dass Julia wie die anderen Kinder auf Station war. Sie war zurzeit gut eingestellt, das EEG war „sauber“ und sie trank ordentlich, wuchs und nahm zu. Ich konnte zufrieden sein. Für mich war der Aufenthalt eine reine Sicherheitsvorkehrung. Ich hatte noch immer nicht begriffen, dass wir längst Teil dieser Welt waren. Einer Welt voller Monitore, Kabeln, Schläuchen, Windeln und Rollstühlen. Es ist schwer Etwas zu akzeptieren, wenn man es nicht begreifen kann. Zuerst kommt die Realisierung, dann erst die Akzeptanz. So ist es nunmal. So verbrachte ich diese Woche in Verdrängung, wobei es auch immer schwerer wurde diese Fassade vor mir selbst aufrecht zu erhalten. Bei einer Gelegenheit bröckelte sie. Ich habe einen vorherigen Beitrag zu diesem Vorfall geschrieben. Es wurde auch mir allmählich klar, dass ich mir die Welt womöglich schön redete.

Nach einer Woche wurden wir entlassen und mussten 6 Stunden auf meinen Mann warten, da dieser bei der Arbeit war. Um die Zeit totzuschlagen setzte ich mich in ein Café und nahm mir eine Zeitung. Ich hatte 7 Tage lang keine Medien konsumiert. Der Blick auf die Schlagzeilen reichte, um das Versäumte aufzuholen. Donald Trump war zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt worden. In diesem Moment dachte ich ehrlich die Welt geht zugrunde. Und vor allem:“ Wie sind wir bloß hierher gekommen?“

Es würden allerdings noch einige Monate vergehen, bis ich diesen Schock verdauen würde. Wobei, ehrlich gesagt, dass kapiere ich bis heute nicht.

Und es würde noch länger dauern bis ich das Wort „Behinderung“ in den Mund nehmen würde. Vielleicht hätte ich es eher akzeptiert, wenn ich von meinem Umfeld anders behandelt worden wäre. Jeder tat so als sei alles in bester Ordnung und gleichzeitig behandelte man mich wie ein rohes Ei. Auch Julias Papa hatte große Anpassungsschwierigkeiten, wer nicht? Er hat es länger verdrängt als ich. Ich mache hier keine Schuldzuweisungen. Es ist auch schwer für das Umfeld die richtigen Worte zu finden und nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Das verstehe ich. Fakt ist auch, dass viele Menschen mit Berührungsängsten zu kämpfen haben. Das darf auch sein. Es ist schwer für alle Beteiligten.

Also in Anbetracht all dieser Faktoren und Widrigkeiten habe ich mich, meiner Meinung nach, ganz gut geschlagen.

Mit der Zeit kamen für uns Eltern die Einsicht und die Akzeptanz. Und ein neuer Anfang für uns als Eltern, als Familie und als Ehepaar. Und eine Zeit richtiger Worte. Worte der Wahrheit, der Freude, der Trauer, der Zuversicht und der Ermutigung. Einer der Lieblingssaetze meines Mannes von damals lautete:

„Sie wird super werden, weil sie dich hat.“ Er hatte nur teilweise Recht. Ja, Julia ist super, aber nicht unbedingt nur meinetwegen. Sie war von Anfang an super. Die Tränen haben nur den Blick verklärt.

So sind wir hierher gekommen.

Wichtige Informationen

Drohender Status Epilepticus

Neues Jahr, alte Erinnerungen

Meine Achillessehne – mein Kind

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